Warum ist Pflegedokumentation zur Qual geworden?
Vor einigen Jahren kam das Statistische
Bundesamt, im Rahmen des eigenen Programms zum Bürokratieabbau, zu den
Erkenntnissen, dass rund 20% der
Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen ausschließlich dokumentieren und nicht in der
praktischen Pflege arbeiten [...] Am höchsten seien die Kosten [...] bei der
Pflegedokumentation.
Es liegt auf der Hand, dass sich
Pflegende in Deutschland bezüglich der Dokumentation bis vor kurzer Zeit in
einer fast dramatischen Situation befanden. Es gab
nicht nur in den Pflegeverbänden,
sondern auch bei den Pflegeexperten eine fast völlige Übereinstimmung, dass der
Dokumentationsaufwand übermäßig, überbordend und für Pflegende sehr belastend
war.
An Lösungsvorschlägen mangelte es nicht,
jedoch wurden sie meistens sehr allgemein gehalten, als Kritik an der "Politik"
oder "Kassenpolitik" oder auch als Empfehlung zur Vereinfachung der
Prüfverfahren. Hierbei tratt meist in den Vordergrund die Kritik an den
Doppelprüfungen, die vermieden werden sollten, oder es fand eine Aufzählung der
diversen als unnötig oder überflüssig empfundenen Dokumentationsaufgaben aus der
pflegerischen Praxis statt.
Es fehlte eine Analyse der systemischen
Ursachen und es fehlten auch die Ideen von einer sinnvollen Alternative, die mit
sich mögliche Zeitersparnisse bringen könnte, unter Beibehaltung der gleichen
oder Erlangung einer höheren Pflegequalität.
Im Juli 2013 legte die Ombudsfrau
zur Entbürokratisierung der Pflege Empfehlungen zur Effizienzsteigerung der
Pflegedokumentation vor. Heute ist
das neue System der Pflegedokumentation bundesweit in der Einführungsphase
Doch wie kam es dann überhaupt dazu, dass das
Dokumentieren ungewollte und statistisch belegte auffällige Ausmaße erlangen
konnte?
Es ging wohl um die praktische Umsetzung von
Richtlinien und Grundsätzen.
Nehmen wir als Beispiel einen der wichtigsten
Grundsätze des MDK (Dokument
Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und Qualitätssicherung sowie für die
Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in
der stationären Pflege aus dem Jahr 2011):
Die
vollstationäre Pflegeeinrichtung fertigt eine individuelle Pflegeplanung und
legt erreichbare Pflegeziele, deren Erreichung überprüft wird, fest. Die
Pflegeplanung muss der Entwicklung des Pflegeprozesses entsprechend
kontinuierlich aktualisiert werden.
Eine wesentliche Frage ist hierbei: was ist
eigentlich eine individuelle Pflegeplanung?
Nach jedem in Deutschland praktizierten
Pflegemodell wird der Mensch als ein ganzheitliches Wesen, eben als ein
Individuum verstanden.
Ziel der
Pflegeplanung ist es, unter Einbeziehung des Bewohners seine Fähigkeiten,
Ressourcen und Pflegeprobleme zu identifizieren... (O.g. Dokument
Maßstäbe...)
Pflegeplanung erscheint so als
Teilabbild der Individualität einer gepflegten Person: individuelle Biographie
fließt in sie ein, jede Vorliebe oder Abneigung wird in sie integriert. Da
theoretisch jede einzelne Begebenheit aus dem Leben der gepflegten Person eine
gewisse pflegerische Relevanz haben kann, könnte
auch Pflegeplanung genauso detailliert und ausführlich wie das Leben selbst
werden. Da jede Individualität unerschöpft ist, so dürften auch einer
Pflegeplanung keine Grenzen gesetzt werden. Hier befand sich eine Quelle der
immanenten Bürokratisierung der Pflegedokumentation.
Aus dem auf den ersten Blick
unbestrittenen Grundsatz, dass die Einrichtung verpflichtet ist, eine
individuelle Pflegeplanung anzufertigen, folgte eine häufig unglückliche und
zeitlich sehr aufwändige praktische Umsetzung: um die Individualität der
Pflegeplanung nicht zu gefährden, mieden Pflegekräfte gleiche oder ähnliche
Formulierungen zu den routinemäßigen Tätigkeiten und neigten dazu sich in die
Beschreibungen der Abläufe bei einzelnen Klienten minutiös zu vertiefen. Sie
gingen davon aus, dass mit mehr pflegeirrelevanten Details eine Planung
automatisch individueller wird!
Die Individualität eines
Pflegeplanes wird nicht durch detailtreue ausführliche Beschreibung der
Pflegeintervention bestimmt, sondern sie stellt einen Ausdruck der im Vorfeld
durchgeführten Assessments und deren konkreten Ergebnissen dar. Ergaben die
Assessments keine spezifische, d.h. keine
pflegerelevante Erkenntnisse, dann dürfte sich der Pflegeplan auf einen in
der Einrichtung geltenden Pflegestandard beziehen und somit könnte die
zuständige Pflegefachkraft auf eine detaillierte Beschreibung verzichten.
Die beschriebene Praxis beruhte auf
einem missverstandenen Sinn und Zweck der Pflegeplanung. Nicht jedes
individuelle Merkmal der gepflegten Person oder der Pflegeumgebung ist
pflegerelevant und sollte auch nicht automatisch Platz in der Pflegeplanung finden. Nicht
Individualität des Menschen sollte in der Pflegeplanung abgebildet werden,
sondern seine individuelle Pflegebedürftigkeit.
Eine weitere wichtige Quelle des
übertriebenen Dokumentierens waren falsch angewandte pflegerische Assessments.
Seit Jahren werden vor den deutschen
Pflegeexperten Expertenstandards entwickelt, um in der pflegerischen Praxis für
Orientierung und Einhalten von gleichen Prinzipien zu sorgen. Die
Expertenstandards bieten aber keine konkreten Assessments oder
Prüfungsinstrumente dar.
Die Anzahl pflegebezogener
Assessments-Instrumente ist inzwischen sehr groß. Allerdings gibt es keine
geprüften oder normierten Verfahren. In der Praxis stellte sich die Frage: Wie
soll ich einen Expertenstandard umsetzen? Hier steckt eine Schwierigkeit in der
Anwendung von den ungeeigneten (falschen) Assessments, aber auch in der falschen
Anwendung von richtigen Assessments.
Die Assessments werden angewandt, um bei den
betreuten Menschen Probleme, Risiken und Ressourcen zu erkennen, und so die
entsprechenden Bereiche der Pflegeplanung mit abzuleitenden Pflegeinterventionen
erstellen zu können. Grundsätzlich gilt: ist ein Risiko oder Problem vorhanden,
muss gehandelt werden. Die Handlungsweise wird dann in der Pflegeplanung durch
die Pflegeinterventionen festgelegt. So wird durch die verknüpfte Reihenfolge
Pflegeassessment - Pflegeplanung - Intervention eine Arbeitsanweisung an die
Pflegekräfte gegeben: sie handeln danach und verhindern durch prophylaktische
Maßnahmen, dass Schäden bei Klienten entstehen, oder, dass sich bestehende
Schäden verschlimmern.
Es ist leider nicht möglich,
generelle Regeln herauszufinden, um festzustellen, wann ein Risiko vorhanden ist
und wann nicht. Dynamik des Pflegeprozesses führt dazu, dass sich die konkrete
Gefährdung schnell ändern kann. Um die Gefahr einer versäumten
Pflegeintervention zu verhindern, entscheiden sich Einrichtungen dazu, lieber zu
viel zu testen, zu prüfen und zu dokumentieren als zu wenig. Auf diese Weise
gelangten in vielen Häusern grundsätzlich alle Bewohner auf die Prüflisten und
ihre Gefährdung wurde mit dem im Haus geltendem Verfahren regelmäßig
eingeschätzt. So glaubten sich
Einrichtungen auf der sicheren Seite zu sehen, da sie sich des Vorwurfes, nichts
gemacht zu haben, mit dem Hinweis auf die Dokumentation plausibel erwehren
können.
Auch bei den Menschen, die sich
selbständig versorgen und in den Einrichtungen nur Hotelleistungen in Anspruch
nehmen, wurden Assessments durchgeführt, um zu belegen, dass diese Klienten
tatsächlich keinerlei Unterstützung bedürfen.
Ohne Assessment oder ohne eine vorherige
Prüfung meinte man, dass es keine Gewissheit über die Pflegebedürftigkeit gibt.
Wie sehen aber die Prüfinstrumente und die
Assessments aus? Allgemein gültige Standard-Assessments gibt es in Deutschland
nicht. Expertenstandards stellen eine Art Richtlinien dar, bieten aber keine
konkreten Verfahren oder Tests. Eine Einrichtung kann nicht in eigener Regie
solche Instrumente entwickeln, es ist durchaus einfacher, sie zu übernehmen. Sie
werden häufig durch die Hersteller von diversen Dokumentationssystemen
entwickelt und zur Verfügung gestellt. Dazu gehören auch die Anbieter von
Softwarelösungen. Den überlasteten Anwendern in den Einrichtungen empfehlen sich
diese mit ihren interdisziplinären Teams als ausgewiesene Fachleute, die
Licht in die Dunkelheit von
MDK-Richtlinien, Stellungnahmen, Vereinbarungen und Empfehlungen bringen können.
So wird auch die praktische Umsetzung von Expertenstandards diesen Experten
überlassen, sie entwickeln die konkrete Gestaltung von Pflegeassessments und
erarbeiten die Messinstrumente. Da aber die Pflegeassessments nicht normiert und
standardisiert sind, ist im Prinzip
hinsichtlich Aufwandes oder der Länge des Verfahrens (fast) alles erlaubt.
Sehen Sie dazu hier mehr.
Bürokratischer Dokumentationsaufwand ließ sich
auch vor der Zeitalter der SIS weiter reduzieren, hätte man die ungeprüften,
unstandardisierten Assessments in den verschiedenen Dokumentationssystemen einer
Analyse des Zeitaufwand-Nutzen-Verhältnisses unterzogen. Wie viel Zeit nimmt das
Verfahren in Anspruch und wie hilfreich ist es tatsächlich? Unter Umständen wäre es besser, auf
zeitaufwändige und wenig hilfreiche Assessments zu verzichten und den
Pflegekräften mehr Freiheit in der individuellen Erfassung von
Beeinträchtigungen ihrer Klienten einzuräumen.
Die letzten Versionen von
Expertenstandards und das neue Strukturmodell zur Entbürokratisierung der
Pflegedokumentation setzen auf die Kompetenz einer geschulter Fachpflegekraft.
Sie stellen einen grundlegenden Abkehr von den nutzlosen und zeitraubenden
Assessments und ermöglichen eine menschenorientierte Dokumentation.
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